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Wie erkenne ich eine erhöhte Sensibilität und Begabung?

Diane Hedderich, 31.10.2024

Viele Menschen sind mit den Phänomenen „Hochsensibilität“ und „Hochbegabung“ nicht vertraut und können darum auch nicht erkennen, dass mögliche Herausforderungen in ihrem Leben mit diesen Dispositionen zusammenhängen. Wie erkennen Sie, dass Sie möglicherweise „hochsensibel“ und/oder „hochbegabt“ sind?

Hochbegabung und Hochsensibilität sind noch immer sehr wenig bekannt, und wenn ja, bestehen falsche Vorstellungen davon. Aus diesem Grund ist es für Betroffene oft sehr schwer, sich mit diesen Dispositionen zu identifizieren – sie fühlen, dass sie „anders“ sind als ihr Umfeld, sie haben Schwierigkeiten in ihrem Leben, besonders in ihrem Berufsleben, doch schlüssige Erklärungen fehlen. Häufig richten sich Erklärungsmuster gegen die eigene Person: Man hält sich für „zu schwach“, „zu sensibel“, „zu sprunghaft“ oder macht Erfahrungen in der Kindheit für das Erleben verantwortlich. Erzähle ich Menschen, bei denen ich Züge einer hohen Sensibilität und/oder hohen Begabung erkenne, von den Konzepten, wirkt das oft sehr heilsam. Wie machen sich eine hohe Sensibilität und Begabung zum Beispiel bemerkbar?

Gefühl, seinen Platz im Leben nicht zu finden
Ein weit verbreitetes Phänomen unter sehr begabten Menschen ist das als sehr unangenehm erlebte Gefühl, seinen Platz im Leben nicht zu finden. Dabei schauen sie auf ihr Umfeld, in dem die meisten seit Jahren oder Jahrzehnten zufrieden einem Beruf nachgehen und vielleicht „Karriere“ gemacht haben, man selbst hingegen hat bereits mehrere Berufe ausgeübt, vieles begonnen und wieder abgebrochen, sich häufig sehr unwohl gefühlt am Arbeitsplatz und die ganze Zeit darüber gerätselt, warum es denn nur so schwierig ist, beruflich zufrieden zu sein.

Meiner Erfahrung nach ist es für sehr kluge Menschen deutlich schwieriger, Lösungen für ihr Berufsleben zu finden als für „normal“ Begabte. Die Gründe sind vielfältig: So haben sehr intelligente Menschen oft so viele Interessen und Begabungen, dass diese nicht alle in einem Beruf ausgelebt werden können. Oder sie sind für eine Weile okay mit der Festlegung auf einen Beruf, langweilen sich dann aber und möchten wechseln. Eine klassische, intellektuell anspruchsvolle Führungslaufbahn wird wegen Wertekonflikten, dem Wunsch nach Unabhängigkeit oder dem Gefühl, nicht tough genug zu sein, oft abgelehnt. Viele Lösungen, die für andere funktionieren, passen für einen selbst nicht – eine große Belastung für viele. Hier kann es sehr erleichternd sein, seine spezielle Situation anzunehmen und ganz individuelle Lösungswege zu suchen.

Gefühl, unter seinen Möglichkeiten zu bleiben
Viele kluge Menschen hadern aus oben genannten Gründen damit, das eigene Potenzial nicht auszuleben. Gehörten sie in der Schule und Uni zu denen, denen die Dinge eher leicht fielen und die dafür Anerkennung (oder auch Spott) bekamen, fällt es im Erwachsenenleben umso schwerer, Jobs zu finden, in denen das intellektuelle Vermögen ausgelebt werden kann. Viele begabte Menschen haben für dieses Gefühl ein Bild – meines ist es zum Beispiel, dass ich auf Gas und Bremse gleichzeitig stehe, ein Klient berichtete, dass er sich im Alltag oft wie ein Fahrradfahrer in der Fußgängerzone fühle. Ein sehr, sehr unangenehmer Zustand für viele, die dann versuchen, ihren Geist in der Freizeit zu beschäftigen.

Eine weitere Ausprägung ist es, in Meetings am Arbeitsplatz ungeduldig und wütend zu werden, weil die Dinge nicht schnell genug vorangehen – etwas, an das ich mit Grauen zurückdenke. Geduld gehört oft nicht zu den Stärken sehr kluger Menschen, und sie können nicht nachvollziehen, warum ihre Mitmenschen nicht genauso schnell, klar oder weit denken. Auch hier kann es helfen, sich immer wieder bewusst zu machen, dass man selbst zu einer Minderheit gehört, nicht die anderen.

Überforderung durch Sinnesreize, Stress und Druck
Sehr begabte und sehr sensible Menschen nehmen äußere sowie innere Reize zudem sehr intensiv und viel intensiver als die meisten Menschen wahr. Häufig empfinden sie zum Beispiel die Arbeit in Großraumbüros als sehr stressig, weil zu laut und unruhig. Ähnliches gilt für die Teilnahme an Besprechungen, die ja üblicherweise durch eher laute Personen dominiert werden – sensible Menschen bevorzugen eine ruhige und wertschätzende Kommunikation. Dienstreisen oder große Feiern können angesichts des Stresses und der Veränderung des Rhythmus ebenfalls als sehr belastend empfunden werden, viele werden nach solchen Ereignissen krank. Und wieder schaut man auf sein Umfeld, dem alles so mühelos zu gelingen scheint…

Das Gefühl, anders zu sein
Folge oben beschriebener Erfahrungen und Gefühle ist es häufig, dass sich hochbegabte und hochsensible Menschen „anders“ als die meisten Menschen fühlen. Meist ist es ein unspezifisches Gefühl: Betroffene merken, dass sie anders ticken als die meisten anderen, werden manchmal sogar darauf angesprochen mit Sätzen wie „Sei doch nicht so empfindlich.“ oder „Was hast du denn jetzt schon wieder?“ und können sich selbst keinen Reim darauf machen. Weil plausible Erklärungen fehlen, geben sie sich oft selbst die Schuld und fühlen sich unzulänglich und unsicher.

In meiner Rolle als Coach und als Freundin durfte ich mehrfach Zeugin sein, wie erleichternd es für meine Klient:innen bzw. Freund:innen war, wenn ich ihnen von meinen Erfahrungen mit hoher Begabung und hoher Sensibilität erzählt habe und sie in der Folge darüber gelesen haben. Ich lächle, wenn ich diese Sätze schreibe, und erinnere mich an sehr schöne Erlebnisse in diesem Zusammenhang. Genauso werde ich mich noch viele Jahre, vielleicht bis an mein Lebensende, an mein erstes Beratungsgespräch zu diesen Themen erinnern. Solche Ereignisse können einschneidend sein, weil die eigenen, diffusen Gefühle auf einmal Namen bekommen und sich so vieles erklärt.

Moralische Konflikte, großes Freiheitsbedürfnis und Schwierigkeiten mit Autoritäten
Sehr begabte Menschen und sehr sensible Menschen unterscheiden sich, genau wie alle anderen Menschen, sehr. Ein Muster, das neben den oben genannten jedoch ebenfalls häufig vorkommt, sind hohe moralische Werte, ein großer Freiheitsdrang und Schwierigkeiten, sich in Hierarchien einzuordnen. Diese Disposition macht es gerade sehr talentierten Personen schwer, ihr intellektuelles Vermögen und den sehr stark ausgeprägten Über- und Weitblick in Angestelltenverhältnissen auszuleben. Das Problem kommt gleich aus mehreren Ecken: „Einfache“ Angestelltenpositionen sind zu leicht und auf Dauer langweilig, bei Rollen mit viel Verantwortung und Kontakt zu anderen Menschen entstehen oft Wertekonflikte (zum Beispiel müssen sozial gesehen sehr harte Entscheidungen getroffen werden), und der Druck und die zwischenmenschlichen Konflikte kosten angesichts der erhöhten Sensibilität sehr viel Energie. Hochbegabte und hochsensible Menschen können so zwischen Unter- und Überforderung pendeln, die Gefahr, krank zu werden, ist – verständlicherweise – erhöht.

Fragen, Gedanken und Kommentare gerne an meine E-Mail-Adresse mail(at)dianehedderich(punkt)de. 

 

Was ist eigentlich ein „gutes Coaching“?

Diane Hedderich, 07.10.2024

Da es in der Bevölkerung wenig Wissen darüber gibt, was Coaching genau ist, und auch einige Angebote im Markt existieren, die ich als fragwürdig erachte, stelle ich in diesem Artikel einmal zusammen, was aus meiner Sicht ein „gutes Coaching“ darstellt. Dabei orientiere ich mich an den Grundlagen des „systemischen Coachings“, das ich erlernt habe, sowie an meiner praktischen Erfahrung. Fragen und Kommentare gerne an meine E-Mail-Adresse.

1. Coaching ist keine Beratung
Der aus meiner Sicht zuerst zu nennende, wichtigste Punkt ist, dass Coaching keine Beratung ist.

Der Beratungsansatz geht davon aus, dass die beratende Person zu dem relevanten Thema mehr weiß als die ratsuchende, ihr also fachlich überlegen ist und dieses Wissen in Gesprächen weitergibt. Beratungen gibt es in allerhand Gebieten, z. B. Finanzen, Versicherungen, zu medizinischen Themen, auch zu beruflichen Fragestellungen – natürlich kann ich jemanden bezahlen, der mir erklärt, wie Lebensläufe oder Arbeitszeugnisse erstellt werden. Dann sitze ich da, stelle vielleicht Fragen und höre im Wesentlichen zu.

Der systemische Coachingansatz hat eine diametral entgegensetzte Haltung: In der systemischen Lehre wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch Experte für sein Leben ist und alle Antworten in ihm selbst liegen. Rolle des Coaches ist es, Methoden anzubieten, mit denen diese Antworten an die Oberfläche befördert werden. Es wird, so gut es geht, versucht, keinen Einfluss auf die Hilfesuchenden auszuüben, sondern „lediglich“ den Prozess zu gestalten und dem Gegenüber Raum und Struktur für seine Arbeit zur Verfügung zu stellen. Dieser Ansatz wird oft auch als „Hilfe zur Selbsthilfe“ beschrieben.

Für viele Klient:innen ist dieses Vorgehen erst einmal fremd. Oft meldet sich das Bedürfnis, dass jemand anders die eigenen Fragen und Probleme lösen möge und könne. Das halte ich für sehr menschlich. Gleichzeitig kann keine fremde Person wissen, was gut und richtig für uns ist, dafür sind wir alle viel zu komplex und viel zu verschieden. Und es ist wichtig, dass die ratsuchende Person die Verantwortung für ihr Leben und die nächsten Schritte übernimmt, denn nur durch eigenes, zielgerichtetes Tun können wir uns unseren Zielen nähern.

2. Orientierung an den Zielen des Klienten/der Klientin
Apropos Ziele: Ein Coaching orientiert sich stets an den Zielen des Klienten/der Klientin, niemals an Zielen anderer Personen. Ich rate zu großer Vorsicht, wenn Berater oder Coaches vorgeben zu wissen, was „richtige Lösungen“ oder gute nächste Schritte sind. Da mag einmal ein passender Zufallstreffer dabei sein, doch in der Regel gehen diese „Gewissheiten“ an der individuellen Bedürfnislage der Ratsuchenden vorbei.

Systemische Coaches arbeiten mit einem strukturierten Prozess, in dem sie ihre Klient:innen dabei begleiten, zunächst ihre aktuelle, in der Regel als defizitär erlebte Situation umfangreich darzustellen (möglichst visuell). Danach richten sie den Blick auf die Zukunft und stellen Fragen wie diese: „Wie wäre es denn besser?“, „Was möchten Sie erreichen?“ oder „Was wünschen Sie sich?“. Bereits diese Gegenüberstellung schafft viel Klarheit und auch erste positive Gefühle, da die Problemfokussierung verlassen wird. In der Folge sucht der Klient nach individuell passenden Wegen, die herausgearbeiteten, attraktiven Ziele zu erreichen. Meist muss der Coach den Prozess nur moderieren, zaghafte Vorschläge sind erlaubt und helfen über Denkblockaden weg.

Ein Coaching schaut stets auf die Zukunft und Möglichkeiten und nutzt den Blick in die Vergangenheit oder die Analyse von Herausforderungen lediglich als eine Methode. Anliegen ist es nicht, wie manchmal befürchtet, „Schwächen“ oder Unzulänglichkeiten aufzudecken, sondern Ziele, Ressourcen und Stärken. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von der „Aufmerksamkeitsfokussierung“ und versuchen, Menschen, die stark mit ihren Belastungen verbunden sind, wieder in Kontakt mit ihren Kompetenzen zu bringen.

3. Berücksichtigung von Umfeldfaktoren
Meinem Erleben nach ist es ein wesentlicher Mehrwert des systemischen Ansatzes, dass wir neben dem Individuum auch seine Umfelder in unsere Arbeit einbeziehen. Vor einigen Jahren habe ich einmal mit einer jungen Frau gearbeitet, die bereits zur Intensiv-Meditierenden geworden war, weil sie sich an ihrem Arbeitsplatz so unwohl fühlte. Meditation ist natürlich ein mögliches Mittel, um mit Belastungen umzugehen, genauso legitim ist es aber auch, zu dem zu stehen, was einem wichtig ist, und ein besser passendes Umfeld zu suchen. Bei Jobs handelt es sich dabei um den sogenannten „Cultural Fit“, also eine mehr oder weniger gute kulturelle Passung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen.

Genauso berücksichtigen wir im Coaching die private Lebenssituation, Kinder, Eltern, Hobbys, Interessen, gesundheitliche Einschränkungen usw. Und beleuchten, sofern gewünscht und hilfreich, mögliche Prägungen aus der Herkunftsfamilie oder Kultur, die der Zielerreichung im Weg stehen.

4. Haltung des Coaches
Meiner Überzeugung nach sind die wichtigsten Eigenschaften von Coaches Neutralität, Wertschätzung und Allparteilichkeit.

Neutralität knüpft an einige bereits beschriebene Elemente an: Es ist wichtig, dass der/die Coach offen für die Gedanken-, Lebens- und Lösungswelt seiner/ihrer Klient:innen ist und mögliche eigene Ideen lediglich in Form von Hypothesen und Fragen äußert. Niemals hat er oder sie die besseren oder passenderen Lösungen als die Ratsuchenden selbst.

Wertschätzung ist eine zentrale Haltung in der systemischen Lehre und ein Grund, warum ich sie so schätze. Menschen, die Hilfe suchen, fühlen sich oft unsicher oder schämen sich – sehr verständlich – ihre Problemlagen vor einer fremden Person zu schildern. Aus diesem Grund finde ich es sehr wichtig, dass sich der/die Coach stets herzlich und wertschätzend verhält, um eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, die es dem Gegenüber erleichtert, sich zu öffnen und wohlzufühlen.

Allparteilichkeit ist ebenfalls ein klassischer Bestandteil systemischer Arbeit. Sie bedeutet, dass systemische Coaches für alle an einem Sachverhalt Beteiligten Partei ergreifen – selbstredend für den eigenen Klienten/die eigene Klientin, aber auch für alle anderen involvierten Menschen. Gute Lösungen sind nur gut, wenn sie für alle gut sind. Manche Klient:innen irritiert diese Haltung, da sie sich manchmal mehr im Recht sehen als andere Parteien oder weil sie sich in der Vergangenheit ungerecht behandelt fühlten. Während das emotionale Erleben der Hilfesuchenden natürlich gewürdigt wird, laden Systemiker:innen gleichzeitig dazu ein, auch die Perspektiven der anderen Beteiligten zu erforschen, erste Bewertungen zu hinterfragen und mögliche abweichende Interessen als legitim anzuerkennen.

5. Sympathie und Augenhöhe
Schließlich ist es natürlich wichtig, dass sich Klient:innen mit ihrem Coach wohlfühlen und ihm/ihr vertrauen. Ich würde noch den Punkt „Augenhöhe“ ergänzen, der an oben Geschildertes anschließt: Gute Coaches sehen sich als Verantwortliche für den Prozess und ihre Klient:innen als Experten für ihr Leben. Die Arbeit findet auf Augenhöhe statt, nicht „von oben herab“. Diese Haltung zeugt zum einen von Wertschätzung, zum anderen wird die Eigenverantwortung der Hilfesuchenden gestärkt, und es werden keine Abhängigkeiten geschaffen.

Gedanken und Kommentare gerne an meine E-Mail-Adresse mail(at)dianehedderich(punkt)de.

 

Über die, die „alles machen könnten“
Ein Grundkonflikt begabter Menschen

Diane Hedderich, 16.09.2024

Ich habe ja kürzlich bereits zwei Artikel über das Thema Hochbegabung geschrieben – einen, der eher damit einhergehende Schwierigkeiten thematisiert, einen weiteren, der auch Vorzüge würdigt. In den letzten Tagen denke ich immer wieder über einen Satz nach, der auf einer Website über Hochbegabung steht: Es gibt eine Gruppe sehr begabter Menschen, die „alles machen könnten“. Dieser Satz resoniert extrem mit mir. Warum?

Es gibt ja sehr viele Gründe und Erklärungsansätze, warum Menschen sind, wie sie sind, und denken und fühlen, wie sie es tun. Begabung oder Intelligenz ist einer davon. In der Praxis ist es nicht ganz einfach zu bestimmen, welchen Einfluss was genau hat. Ein Satz, der mich ganz extrem anspricht und beschäftigt, ist oben genannter: Es gibt hochbegabte Menschen, die „alles machen könnten“.

Ich habe diesen Satz bereits vor einiger Zeit auf der Website einer Person gelesen, die auf die Arbeit mit hochbegabten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen spezialisiert ist und sehr viel Erfahrung in dem Bereich hat. Ich frage mich – wie viele – natürlich auch, welche meiner Eigenschaften welche Konsequenzen hat und was ich eventuell ändern kann. Und dieses angesprochene breite Talent kann ich eben nicht verändern. Somit kann ich einen wesentlichen Grund für mein gelegentliches Hadern mit meiner Lebenssituation nicht beseitigen. Tja.

Egal, wie ich mich entscheide: Ich kann nicht alles tun, was ich gerne tun würde
Ich finde sehr spannend, wie ich auf mein bisheriges Leben zurückschaue: Einerseits war ich mir stets bewusst, dass ich klüger als die meisten Menschen bin – da waren die 18 Jahre Schule und Uni eindeutig genug. Gleichzeitig habe ich nie wirklich in Betracht gezogen, dass daraus ernste, echte, wichtige Unterschiede zu anderen Menschen entstehen könnten. Ja, Schule und Uni waren für mich leichter als für die meisten, aber so what? Ich hatte da eben Glück. Nach und nach versuche ich nun, als mittelalter Mensch, auseinanderzudividieren, was vielleicht doch anders ist als bei anderen.

Der erwähnte Satz löst ein intensives Gefühl bei mir aus, weil mein breites Talent vielleicht die größte Herausforderung für mich darstellt. Denn: Egal, wie ich mich entscheide: Ich kann nicht alles tun, was ich gerne tun würde.

Das „Elend“ begann bei der Wahl meiner Studienfächer
Heute erscheint es mir etwas unüblicher als damals, dass ich mich nach dem Abitur für fast 10 Studienfächer beworben habe: Medienwissenschaften (weil ich mich für Journalismus interessierte), Geographie (weil ich mich schon immer für die Welt begeistern konnte), Architektur und Bauingenieurwesen (weil ich aus einem Bauunternehmen stamme), Englisch (mochte ich schon immer) und Politik (fand ich auch schon immer spannend) – habe ich alle abgesagt. Studiert habe ich dann Soziologie, Psychologie, BWL und Jura (natürlich jeweils nur Teile davon). Als Leistungskurse hatte ich Mathe und Deutsch und habe erst vor einigen Jahren verstanden, dass ich mit dem Mathe-Leistungskurs richtig Eindruck machen kann. War mir nie klar. Weil für mich immer alles ähnlich leicht war (Mathe war ein bisschen schwieriger, das stimmt schon.).

Noch heute besorgen mich mein breites Interesse und mein breites Talent
Natürlich bin ich in erster Linie selbstständig tätige Coach und Beraterin. Diesem durchaus umfangreichen Gebiet widme ich einen großen Teil meiner Zeit und fühle mich angesichts der freien und abwechslungsreichen Tätigkeit sehr privilegiert, auch wenn es ein anspruchsvoller Beruf ist.

Doch daneben möchte ich noch so viele Dinge machen: Seit geraumer Zeit geistert zum Beispiel die Idee in meinem Kopf rum, nochmal zu studieren: Physik. Ein Mathe-Studium traue ich mir nicht zu, Physik kommt mir zudem etwas anwendungsbezogener vor und enthält ja Mathe-Kurse. Größter Antreiber ist es, einmal wieder „etwas wirklich Kompliziertes“ zu tun. Die meisten Leser:innen werden wahrscheinlich, sehr verständlich, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und mit Schrecken an diese beiden Schulfächer denken. Ich meine das tatsächlich einigermaßen ernst. Also brüte ich darüber, in welcher Form ich dieses Interesse umsetzen könnte.

Oder soll ich lieber ein Buch schreiben? Das habe ich schon lange vor. Es gibt – wie sollte es anders sein? – mehrere Themen, die da in Frage kommen. Und ich schreibe für mein Leben gern. Verglichen mit dem Studium kommt mir diese Option aber etwas langweilig vor: Klar, so ein Buch will strukturiert werden, ich müsste vorab einiges selbst lesen, dann schreiben – es gibt schlichtere Unterfangen. Aber kann mich diese Tätigkeit lang genug begeistern? Mir geht es nicht um Anerkennung, Bekanntwerden oder Geld – mir geht es rein um die Frage, wie ich meine Zeit so verwende, dass es gut für mich ist.

So lief es mein ganzes Leben: Ich konnte und kann mir vorstellen, als Journalistin zu arbeiten, darüber hinaus als Lehrerin, Tennis-Trainerin, Marketing-Spezialistin, Führungskraft, Coach, Beraterin (für diverse Themen), Wissenschaftlerin usw. usf. Einige Berufe waren aus unterschiedlichen Gründen immer ausgeschlossen, so zum Beispiel Medizin oder Pflege, weil ich viel zu sensibel bin. Andere Professionen hätte ich intellektuell oder körperlich wahrscheinlich nicht geschafft, wie zum Beispiel Mathe-Professorin oder Leistungssportlerin. Dazwischen liegt eine überfordernde Anzahl an Möglichkeiten. Und das ist richtig schlimm für mich, denn es fordert Entscheidungen von mir, mit denen immer das Fehlen von etwas verbunden ist. Wie sehr beneide ich Menschen, die sich für ein abgegrenzteres Spektrum interessieren oder gar eine Passion haben. Im Grunde ist mir erst während meiner Tätigkeit als Coach aufgefallen, dass ich anders als die meisten Akademiker:innen ticke.

Gedanken und Kommentare gerne an meine E-Mail-Adresse mail(at)dianehedderich(punkt)de.

 

Über das Zuhören

Diane Hedderich, 11.09.2024

Es gibt eine Sache in meinem privaten wie beruflichen Leben, die mich regelmäßig bewegt: die aus meiner Sicht oft unzureichend ausgebildete Fähigkeit von Menschen, sich „gut“ zuzuhören. Ich frage mich, wie viele Menschen in Unterhaltungen überhaupt verstehen, was die andere Person denkt oder fühlt, und wie viele sich durch ihre:n Gesprächspartner:in halbwegs gut gesehen fühlen. Ein Plädoyer fürs Zuhören.

Menschen, die ein Coaching in Anspruch nehmen, haben logischerweise Fragen, die sie gerne mit einer fremden, ausgebildeten Person besprechen möchten. Manchmal sind das relativ einfache, praktische Dinge, die schnell gelöst werden können, manchmal befinden sich die Hilfesuchenden in ziemlichen Krisen, und es geht ihnen nicht gut. Solche Lebensphasen kennen alle Erwachsenen. In letztgenannten Fällen fällt mir immer wieder eines auf, dem ich diesen Text widmen möchte: Zusätzlich zu den Schwierigkeiten, mit denen sich die Klient:innen konfrontiert sehen, berichten sehr viele, dass sie sich von ihrem Umfeld nicht verstanden fühlen. Dabei kann es sich durchaus um das ganz nahe Umfeld handeln – Partner:innen, Freund:innen, Familie. Im Bild gesprochen ist es so, dass diese Menschen, traurig und besorgt, vor mir sitzen, ihr Erleben schildern und gegen Ende Sätze wie diesen ergänzen: „Und meine Freunde verstehen mich einfach nicht – sie sind der Meinung, dass bei mir doch alles gut ist.“ Vielleicht kennen einige Leser:innen ähnliche Sätze aus ihrem Leben – ich auf jeden Fall.

Was passiert da eigentlich genau, in solchen Situationen? Etwas ziemlich Schlimmes, meine ich.
Meiner Erfahrung nach, und dazu findet man auch Literatur, ist es ein Grundbedürfnis von uns Menschen, gesehen zu werden. Wir wünschen uns, dass uns unser Umfeld als das erkennt, was wir sind, was uns ausmacht, was uns wichtig ist. Zustimmung? Wenn ich diese Sätze schreibe, kommt mir dieser Wunsch ziemlich hoch gegriffen vor. Und sofort möchte ich mir widersprechen, denn: Wenn ich an die Beziehungen von mir denke, die ich als „gut“ empfinde, dann zeichnen sie sich genau dadurch aus – dass die beiden Beziehungspartner:innen versuchen, sich zu sehen. Und das, was sie sehen, ernst zu nehmen – dazu später.

Im Coaching gibt es natürlich einen professionellen Prozess, der sich an Theorie und Erfahrungen orientiert – zumindest sollte es so sein. Im systemischen Coaching versuchen wir unter Zuhilfenahme von Methoden, dass die Menschen in sich finden, was sie suchen. Die Grundannahme ist, dass alle Antworten sowie die Ressourcen für die Umsetzung im Klienten/in der Klientin stecken. Aufgabe von uns Coaches ist es „lediglich“, individuell passende Tools vorzuschlagen und diese anzuwenden, so zum Beispiel Reflexionen, Fragetechniken, Einbezug von Emotionen und vieles mehr.

Nach vielen durchgeführten Coaching-Prozessen kann ich bestätigen, dass ein „gutes Coaching“ genau so funktioniert: Alle Menschen, mit denen ich bislang gearbeitet habe, konnten formulieren, wie für sie ein gelungenes Leben aussieht, welche Dinge ihnen in ihrem Beruf wichtig sind, welche Situationen sie besorgen oder Konflikte auslösen. Und sie fanden auch alle Ideen für mögliche nächste Schritte – und zwar ganz oft Ideen, auf die ich niemals gekommen wäre. Weil Außenstehende eben nie die Komplexität anderer Menschen erfassen können. Davon unabhängig sollten Fremde, in professionellen wie privaten Kontexten, meiner Meinung nach auch deshalb sehr vorsichtig sein, anderen Lösungen zu empfehlen, da Hilfesuchende manchmal anderen Menschen mehr als sich selbst vertrauen und dann deren Ideen anstatt die eigenen Ideen umsetzen. Was das Problem oft nicht lösen kann, sondern verlängert oder verschlimmert. Nur wir selbst können wissen, was richtig für uns ist (für gesunde Menschen sprechend).

Was hat mich meine Arbeit über das Thema Zuhören gelehrt?
Ich halte aufrichtiges, interessiertes Zuhören, das versucht, die Situation der redenden Person zu verstehen, für einen Schlüssel guter Beziehungen, sowohl privat als auch beruflich. In meiner Rolle als Coach habe ich oft erlebt, wie wohltuend und bewegend es ist, wenn ich meinen Klient:innen lediglich zuhöre und daraufhin sage „Ich verstehe Sie.“ Ein mächtiger, besonderer Moment, der sehr verbindet. Etwas, das wir alle uns wünschen, oder? Gesehen und verstanden zu werden in dem, was uns bewegt. So entsteht Nähe, so entsteht Verständnis – eine Begegnung auf Augenhöhe, eine Begegnung unter Menschen. Diese Form des Zuhörens, die ich meine, setzt nicht viel voraus. Es braucht 1. die Offenheit, sich auf die Erlebniswelt der anderen Person einzulassen, die nicht ich ist – die also ganz eigene, andere Wünsche und Träume hat, Blockaden und Konflikte. Und 2. ist es wichtig, ernst zu nehmen, was gesagt wird, zu glauben, was die andere Person sagt. Der 2. Satz ist meiner Erfahrung nach besonders bedeutend: Gutes Zuhören beinhaltet, dass die zuhörende Person ernst nimmt, was die redende Person sagt, auch wenn es der eigenen Wahrnehmung widerspricht. Denn die andere Person ist nicht ich.

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Es ist (natürlich) nicht alles schlecht: Die Vorteile einer hohen Begabung

Diane Hedderich, 04.09.2024

Nachdem ich kürzlich über die Schwierigkeiten geschrieben habe, die eine hohe Begabung mit sich bringen kann, möchte ich heute hervorheben, welche Vorteile sie auch schenkt.

1. Die Kehrseite von Langeweile ist Mühelosigkeit
Während viele Hochbegabte immer wieder mit Langeweile und Unterforderung zu kämpfen haben und das als sehr unangenehm empfinden, profitieren sie auf der anderen Seite von Leichtigkeit und Mühelosigkeit. Als ich zu Schule und Uni ging, wurde ich darum viel beneidet, und ich selbst hatte großes Mitgefühl mit Mitschüler:innen und Kommiliton:innen, denen das Lernen nicht so leicht fiel wie mir oder die auch mal durch Prüfungen fielen. Viele Jahre saß ich im Gymnasium neben Schülern, die richtig Mühe mit dem Unterrichtsstoff hatten – etwas, an das ich mich gut erinnere. Genauso präsent sind mir noch diese unsäglichen Notenübersichten, die Lehrer:innen vor der Rückgabe von Klausuren an die Tafel malten und so für jede:n sichtbar machten, wer besser oder schlechter als man selbst abgeschnitten hatte. Was muss das für ein trauriges Gefühl gewesen sein, vielleicht wiederholt zu denen zu gehören, die am Ende der Übersicht rangierten.

Natürlich musste ich mich ebenfalls auf Klausuren vorbereiten, insbesondere zum Studienabschluss, manchmal musste ich auch scharf nachdenken, ganz vereinzelt habe ich Dinge nicht oder schlecht verstanden. Ich wüsste heute gerne, ob ich intellektuell in der Lage gewesen wäre, Mathe oder Physik zu studieren. Bei Mathe habe ich einige Zweifel 😊. Unter dem Strich war ich nur selten gefordert und kam mit vergleichsweise wenig Aufwand bis zu meinem Diplom. Wenn ich über diese Zeit nachdenke, dann kann ich noch gut das Gefühl der verwunderten Beobachterin abrufen: Weil ich oft nicht besonders gut aufpassen musste, um mitzukommen, habe ich mein Umfeld viel beobachtet und mich viel gewundert, warum es nicht allen wie mir ging. Wie konnte es nur so große Unterschiede darin geben, wie Kinder, Jugendliche, junge Menschen mit den Lerninhalten umgingen?

Die anderen Hochbegabten, die ich kenne, sind ebenfalls mit weniger Aufwand als die meisten durch Schule, Ausbildung und Uni gekommen und haben überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Eine Person mit einem sehr hohen IQ hatte hingegen große Probleme, dem Unterricht zu folgen, was auch vorkommen kann, wenn die hohe Begabung nicht erkannt wird. Manchmal fühlt es sich für Hochbegabte so an, als würde das Umfeld eine Sprache sprechen, die man selbst nicht kennt – es gibt dann keine Brücke oder nur eine sehr schmale.

2. Die Vorteile einer hohen Sensibilität
Die Vorteile der erhöhten Sensibilität, die mit einer hohen Begabung einhergeht, fasst diese Rückmeldung einer ehemaligen Klientin von mir gut zusammen, finde ich: „Sie connecten so schön.“, sagte sie in unserer letzten Sitzung. Sehr sensible Menschen können häufig gut und leicht Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen und sie halten. Sie sind überdurchschnittlich empathisch und zugewandt und spüren oft Dinge, die dem Gegenüber selbst nicht bewusst sind.

Die hohe Sensibilität stellt eine wichtige und starke Wahrnehmungsquelle im Leben dar, die das Denkvermögen ergänzt: Wie schaut jemand? Wie sind Mimik und Körperhaltung? Wie ist die Gefühlslage der/des anderen? Wirken Äußerungen authentisch oder nicht? Diese Dinge kann man bei sich selbst und anderen erkennen und hat, zum Beispiel für Entscheidungen, mehr Informationen zur Verfügung als etwas weniger empfindsame Menschen (die andere Vorteile haben).

Für mich als Coach ist diese Veranlagung natürlich günstig, und auch meine Familie und Freund:innen profitieren von ihr. Auch Kinder mögen mich zum Beispiel sehr, weil ich mich gut auf sie einstellen kann und das auch mag. Sie sind bekanntlich sensibler für kleine, feine Verhaltensweisen als Erwachsene.

3. Die Vorzüge hoher Werte
Alle Hochbegabten, die ich kenne, ich eingeschlossen, sind freundliche, ehrliche Menschen mit ausgeprägter Werteorientierung. Intrigen und Boshaftigkeit finden nicht statt, es wird versucht, sich für Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Transparenz einzusetzen. Oft ist die Verfolgung dieser Werte wichtiger als das persönliche Vorankommen. Ich kenne keine hochbegabten Menschen, die in Unterhaltungen laut würden oder hinter dem Rücken schlecht über andere Menschen reden – etwas, das ich sehr schätze.

Dass mein Verhalten oft auffiel, zeigte sich in meiner Biografie, wenn ich Arbeitsverhältnisse beendet habe. Da kamen regelmäßig Rückmeldungen, wie angenehm doch die Zusammenarbeit mit mir war. Nie habe ich Menschen betrogen, in ernsten Themen gelogen, Kolleg:innen oder meinen Arbeitgeber geschädigt. Auf meine Ehrlichkeit und Integrität war und ist Verlass. Diese Pfeiler stehen stabil, ganz selbstverständlich. Es handelt sich bei der Orientierung an den genannten Werten nicht um eine Entscheidung, sondern sie ist sozusagen „eingebaut“ in unsere DNA.

Wem fallen weitere Vorteile einer hohen Begabung ein? Anregungen und Kommentare wie immer gerne an meine E-Mail-Adresse mail(at)dianehedderich(punkt)de.

 

Mein Leben als Hochbegabte

Diane Hedderich, 28.08.2024

Dass ich diesen Artikel schreibe, ist nicht ganz selbstverständlich. Denn, wie man sich vorstellen kann, macht man sich nicht nur Freunde, wenn man erzählt, schlauer als die meisten zu sein. Dieser Umstand führt gleichzeitig zu einem der Gründe, warum ich über das Thema schreibe – denn es herrschen weitgehend falsche Vorstellungen darüber, was „Hochbegabung“ bedeutet und wie das Leben von sogenannten „hochbegabten“ Menschen aussieht. Also möchte ich zur Aufklärung beitragen, durchaus auch aus eigenem Interesse.

Das klassische Bild, das aufkommt, wenn Menschen an „Hochbegabung“ denken, ist das des Mathe-Professors oder des Wunderkindes. Was würde ich darum geben, wenn es so wäre! Mathe-Professor:innen und Wunderkinder mögen hochbegabt sein, doch Hochbegabung zeichnet sich durch ganz andere Dinge aus als landläufig geglaubt wird. Und diese verdeutlichen auch, warum hochbegabte Menschen häufig Probleme in ihrem Leben haben. Ja, richtig gelesen: Menschen mit einer hohen Begabung haben oft Schwierigkeiten in ihrem Leben, manchmal sehr ernste. Das ist sehr wichtig zu wissen, nicht nur, um möglichen Neid abzustellen.

Was ist eigentlich „Hochbegabung“?
Der offiziellen Definition nach verfügen hochbegabte Menschen über einen sehr hohen Intelligenzquotienten. So wird Hochbegabung gemessen. Tatsächlich glaube ich an den Einfluss eines hohen IQ auf das Leben, besonders auf das Berufsleben. Gleichzeitig führt dieser Gedankenstrang auf eine viel zu enge Fährte, denn hochbegabt zu sein geht mit einer Vielzahl an Eigenschaften einher, die man erst einmal gar nicht in Verbindung mit Intelligenz bringen würde. So ist auch mir erst sehr spät in meinem Leben klar geworden – durch das Kennenlernen eines hochbegabten Klienten – dass es sich für mich lohnt, da mal genauer hinzuschauen.

Das Kennenlernen dieses Klienten war ein sehr wichtiges Ereignis in meinem Leben. Dass ich nicht „normal“ schlau bin, war immer klar – Schule und Uni sind da ja sehr transparent. Einige Jahre hatte ich mich auch schon, eher diffus, mit der Frage beschäftigt, ob meine Intelligenz für manche Schwierigkeit verantwortlich sein könnte, die ich in meinem Berufsleben habe. Dieses Gefühl war lange da, genau wie andere Erklärungsansätze. Im Nachhinein muss ich darüber schmunzeln, denn wer mich kennt, weiß, dass ich psychisch und emotional ziemlich sortiert bin.

Der Coaching-Klient schilderte einige Herausforderungen, die seine Begabung für ihn bedeutet, und ich weiß noch heute, wie wach ich plötzlich war: Wie, diese Dinge können alle mit einer hohen Begabung einhergehen? Ich war platt. Denn ich erkannte mich in den Problemen extrem selbst wieder. Zwischen dem Zeitpunkt des Gesprächs und der Veröffentlichung dieses Artikels liegt etwas mehr als ein Jahr.

Welche Probleme kann eine hohe Begabung verursachen?
Ich habe in den letzten Monaten, während einer sehr intensiven Beschäftigung mit dem Thema, gelernt, dass ich ein relativ typischer hochbegabter Mensch bin. Tut mir leid für die Enttäuschung – Hochbegabte sind so viel langweiliger als man so glaubt 😊. Es gibt einige Merkmale – die auch sehr gut beschrieben sind, wenn man zu der Thematik liest – die häufig vorkommen und bei manchen, nicht allen Menschen Schwierigkeiten verursachen.

Breites Interesse und Talent
Hochbegabte Menschen sind typischerweise sehr breit interessiert und talentiert – also nicht „nur“ an bzw. in Mathe oder einem Musikinstrument, sondern zum Beispiel an/in Mathe, Deutsch, Politik, Sport und Musik. Ich war in jedem Schulfach genauso gut, ohne Ausnahme und ohne Mühe, habe zudem ganz passabel Klavier und Tennis gespielt. In der Uni setzte sich das fort: Nachdem ich 5 Fächer ausgeschlossen hatte, habe ich noch immer 4 studiert. Und bereue heute, nicht noch mehr Fächer belegt zu haben, um später noch mehr berufliche Auswahl zu haben.

Dieses breite Interesse und Talent gehen mit einer großen Herausforderung einher: der Schwierigkeit und dem Unwillen, sich für eine Sache zu entscheiden. Meiner Erfahrung nach ist das ein wesentliches Merkmal begabter Menschen, und es führt bei vielen dazu, so auch bei mir, dass keine klassische Karriere gemacht wird. Denn wer in Deutschland irgendwie „Erfolg“ haben möchte, muss sich üblicherweise auf zumindest einige Themen festlegen. Ein Graus für Hochbegabte.

Hochsensibilität
Ein weiterer Grund, warum hochbegabte Menschen häufig beruflich nicht so erfolgreich sind wie es ihr IQ ermöglichen würde, ist, dass sie auch besonders sensibel sind. Auch wenn man es nicht allen anmerkt: Hochbegabte Menschen sind empfindlicher für Geräusche, Gerüche, Stress, Druck und schlechte Stimmung als die meisten anderen Menschen. Man liest, dass das mit dem Nervensystem zu tun hat, was ich mir gut vorstellen kann. Insgesamt ist Begabung im Wesentlichen genetisch determiniert – also alles eine Frage des Zufalls. Darum gibt es in der Regel auch mehrere hochbegabte Menschen in einer Familie. Ihre hohe Sensibilität hält viele Hochbegabte davon ab, Positionen mit viel Stress und Verantwortung zu übernehmen.

Hohe Werte, Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit
Schließlich ist es ein wesentliches Merkmal sehr intelligenter Menschen, sehr hohe Werte zu haben, darunter einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Wer mich kennt, weiß, dass ich da ein echter Nerd bin: Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Wertschätzung sind mir extrem wichtig, ich ordne fast alles diesen Werten unter und trete stark für sie ein. In Angestelltenverhältnissen sind solche Werte nicht immer ganz einfach auszuleben. Viele Hochbegabte, so auch ich, haben darüber hinaus ein sehr großes Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit. Sie sind kritische Geister und geben sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden. Das kann vom Umfeld schon auch mal als anstrengend erlebt werden.

Selbstverständlich haben alle genannten Merkmale auch Vorteile, und es gibt eine Reihe mehr Eigenschaften, die mit hoher Begabung einhergehen, zum Beispiel wiederkehrende Langeweile und Unterforderung, die unangenehmen Gefühle, „anders“ zu sein und sein Potenzial nicht zu leben, so gut wie immer unterschätzt zu werden. Nicht alle Menschen haben Probleme mit ihrer hohen Begabung, die meisten wissen gar nichts von ihr und gehen zufrieden und unauffällig ihrem Leben nach, oft in Berufen, die man auf den ersten Blick nicht mit hoher Begabung in Verbindung bringen würde. Für manche hingegen ist der Umgang mit ihrer Disposition eine lebenslange Aufgabe, und das Risiko zu erkranken, zum Beispiel an Depressionen, ist erhöht.

Ich habe das Glück, viele Hochbegabte in meinem Leben zu haben, in der Familie und in meinem Freundeskreis. Das ist natürlich wohltuend. Gleichzeitig gehöre ich zu der Gruppe, die niemals stillsteht, immer neue Ideen hat (von denen ich nur einen Bruchteil umsetze) und oft auch mit ihrer Situation hadert. Ich habe das ziemlich sichere Gefühl, dass mein Leben um einiges leichter wäre, wenn ich etwas weniger talentiert wäre – so seltsam das für manche klingen mag. Doch dieser Artikel soll gerade aufzeigen, welch umfangreiche Auswirkungen eine hohe Intelligenz haben kann und dass sie nicht der mythische Segen ist, der ihr allgemein zugedacht wird.

Fragen und Kommentare gerne an meine E-Mail-Adresse mail(at)dianehedderich(punkt)de.

Cultural Fit: Welche Unternehmenskultur passt zu mir?
Podcast mit Johannes Junker von INQUA – Institut für Coaching

04.07.2024

Johannes Junker vom Coaching-Institut INQUA und ich sprechen in diesem Podcast über die Frage, welche Unternehmenskulturen es gibt, woran man sie erkennen kann und wie Interessierte die für sie passende Kultur finden. Unter anderem verwenden wir das Modell Spiral Dynamics.

Warum wir uns nicht verstehen
Das Modell Spiral Dynamics

Diane Hedderich, 19.12.2023

Ich habe ja bekanntlich Sozialwissenschaften studiert, u. a. die Fächer Soziologie und Wirtschafts- und Sozialpsychologie, weil ich mich schon immer für Menschen und das menschliche Zusammenleben interessiert habe. Tatsächlich habe ich in meinem Studium auch reichlich interessante Theorien und Modelle kennengelernt, die mir bis heute helfen, die Wirklichkeit zu interpretieren. So zum Beispiel die Reaktanztheorie, über die ich kürzlich geschrieben habe.

Richtig begeistert hat mich dann aber ein Modell, dem ich erst lange nach meinem Studium begegnet bin – konkret im Jahr 2012, als ich anlässlich einer riesigen beruflichen Krise eine Psychotherapie gemacht habe. Ich bin noch heute glücklich und dankbar, damals genau an diesen Psychotherapeuten geraten zu sein. Denn er konnte meine beruflichen Probleme mit genau einem theoretischen System erklären: Spiral Dynamics. Es war der Hammer – als würden die Autor:innen mich kennen und hätten über mich geschrieben. Das Kennenlernen dieses Modells gehörte zu den richtungsweisenden Ereignissen in meinem Leben, sodass ich mich in der Folge viel damit beschäftigt habe.

Was ist Spiral Dynamics?
Spiral Dynamics ist ein entwicklungspsychologisches Modell, das von dem amerikanischen Psychologieprofessor Clare W. Graves in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts begründet und von seinen Schülern Don Beck und Christopher Cowan weiterentwickelt wurde. Es beschreibt extrem detailliert die unterschiedlichen Lebenswelten von Menschen – was Menschen wichtig ist, sie antreibt, auf welcher Basis sie ihre Entscheidungen treffen. In der Soziologie sagt man „Milieus“ dazu. Ein großer Vorteil des Systems ist seine leichte Verstehbarkeit. Ich konzentriere mich hier auf die Darstellung wesentlicher Inhalte – am Ende des Textes gibt es Leseempfehlungen für Details.

Das postmoderne Milieu
Im Jahr 2012 befand ich mich tief im postmodernen Milieu. Am wichtigsten war es für mich damals, etwas „Sinnvolles“ in meinem Leben zu tun. Etwas zum Nutzen von Menschen oder der Natur. Bereits während meiner letzten Jahre als Angestellte in einem großen Wirtschaftsunternehmen fand ich es schwierig, all meine Energie darauf zu verwenden, die Rolle auszufüllen, die man von mir als Führungskraft erwartete – meine Abteilungsziele zu erfüllen, dabei nie Schwäche zu zeigen. Moralische Überlegungen kamen zwar immer wieder vor, weil ich viel selbst entscheiden konnte, aber im Grunde ging es natürlich um die Erreichung monetärer Größen. Mein Berufsleben war von Fassaden geprägt, die mich umgaben; irgendwann mochte ich nicht mehr mitspielen.

Menschen mit einem postmodernen Werteschwerpunkt sind meist davon angetrieben, sich für soziale oder ökologische Belange einzusetzen, sie brennen für eine Verbesserung unserer Lebensbedingungen. So arbeiten sie oft in der Non-Profit-Welt, als Sozialarbeiter:innen, im Umweltschutz, der Bildung, als Coaches oder Therapeut:innen. Die Bewegungen Fridays for Future und die Letzte Generation gehören hier genauso hin wie die Partei Die Grünen. Für manche Menschen scheint es meiner Wahrnehmung nach schwer vorstellbar, sich derart mit Zielen zu identifizieren, und ja, so manche Aktionen sind übertrieben, keine Frage. Dem Agieren liegt aber echtes Interesse zu Grunde. Und wir haben diesem Milieu viel zu verdanken: Es erinnert uns an den Wert der Natur, die uns umgibt, an unser Menschsein in allen Facetten, Themen wie Gleichberechtigung und Minderheitenschutz, Schutz von Armen und Kranken und vieles mehr.

Postmoderne Menschen sind häufig herzlich, warm, offen und sehr beziehungsorientiert. Neue Formen der Kooperation und Entscheidungsfindung werden ausprobiert, großes Interesse gilt auch der Erforschung der eigenen Persönlichkeit sowie neuen Formen des Zusammenlebens. In Deutschland leben ca. 20 bis 25 % der Bevölkerung in diesem Milieu.

Das moderne Milieu
Unsere westliche Welt ist stark vom modernen Milieu geprägt. Es ist die Lebenswelt der Rationalität, der Naturwissenschaften, der Wirtschaft und des Erfolgs. Einige Jahre habe ich auch in dieser Welt verbracht, und ich denke gerne daran zurück. Ich fand es spannend und herausfordernd auszutesten, zu wieviel Leistung und damit verbundenem Erfolg ich fähig war. Die Professionalität, Innovationskraft und Effizienz mancher Wirtschaftsunternehmen sind für mich nach wie vor total beeindruckend – sie entwickeln die Produkte und Dienstleistungen, die wir am Weltmarkt verkaufen können, und stellen die Arbeitsplätze zur Verfügung, die wir benötigen, um unser Leben zu finanzieren.

Modern geprägte Menschen identifizieren sich darüber, Leistung zu erbringen, Erfolg zu haben und diesen zu zeigen, z. B. durch das Tragen der aktuellen Mode oder das Fahren eines teuren Autos. Sie sind ständig bemüht, bessere Lösungen zu finden, sich fachlich weiterzuentwickeln, arbeiten viel und gern. Das Wort „Karriere“ gehört in dieses Milieu. Arbeitgeber profitieren von der Ziel- und Lösungsorientierung, dem großen Wissen und dem Einsatz ihrer Mitarbeiter:innen in dieser Lebenswelt. Gleichzeitig lauert in diesem Milieu die Gefahr des Burn-outs, wenn das Streben nach Anerkennung nicht begrenzt wird. Auch soziale und ökologische Aspekte haben keine große Relevanz. Circa 40 % der deutschen Bevölkerung gehören dieser Lebenswelt an.

Das traditionelle Milieu
Mit dem traditionellen Milieu verbindet mich persönlich eher weniger, da ich recht unkonventionell aufgewachsen bin. Manchmal treffe ich Menschen aus dieser Lebenswelt und fühle mich sehr zu ihnen hingezogen. Traditionelle Menschen orientieren sich stark an der Region, in der sie leben, an deren Regeln und Bräuchen, eventuell auch an der dort gelebten Religion. Sie sind oft familienorientiert und engagieren sich in ortsansässigen Vereinen. „Bodenständig“ ist ein Wort, das ich sehr treffend finde. Innerhalb ihrer Region oder Gruppe (Verein, Familie, Arbeitgeber) sind diese Menschen sehr hilfsbereit und warmherzig, und da Strukturen und Regeln sehr wichtig für sie sind, ist ihr Verhalten konsistent und zuverlässig. Menschen in dieser Lebenswelt sind gute Buchhalter:innen, Steuerberater:innen, Beamte usw., sie sind loyal, pflichtbewusst und ehrlich – wichtige Voraussetzungen für diese Berufe.

Die Kehrseite der Orientierung am eigenen Umfeld ist oft eine schwächer ausgeprägte Offenheit für fremde Lebensweisen, andere Religionen oder insgesamt Veränderungen. Mehr als 30 % der Bevölkerung in Deutschland haben diesen Werteschwerpunkt.

Die gesunde Spirale
Sowohl für Individuen als auch für Kollektive wie ganze Länder oder Organisationen ist es günstig, Facetten aller drei beschriebenen Milieus zu leben. Und das tun viele Menschen auch, ohne sich dessen bewusst zu sein: Eine gute Kombination für unternehmerisches oder auch persönliches Handeln ist zum Beispiel etwas Struktur und Stabilität aus dem Traditionellen, Unternehmergeist und Risikofreude aus der Moderne und der Sinn für Mensch und Natur aus der Postmoderne. Auch jetzt in der Weihnachtszeit profitieren wir von allen Milieus: Traditionsbewusste Menschen schmücken ihre Häuser schön, Wirtschaftsunternehmen haben tolle Spielzeuge für die Kinder in unserem Umfeld hergestellt, und an Weihnachten oder Silvester kommen wir mit unseren Freunden zusammen, die für viele von uns Wahlfamilie sind. Und so weiter und so fort; die Liste der Beispiele ist lang.

Im Alltag sehen wir oft die negativen Facetten von Lebensweisen, die uns nicht so nah sind. Und davon gibt es natürlich auch reichlich, wenn wir an die Klimaproblematik denken, an Umweltverschmutzung oder Rassismus. Doch der Schatten kommt immer auch mit dem Licht, wie ich manchmal im Coaching sage: Alle Lebenswelten haben ihre Vorzüge und ihre Schatten. Wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir klug agieren und möglichst viele positive Seiten in unser Leben integrieren. Und diese auch in anderen Menschen sehen.

Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, dass sich Menschen wertschätzend begegnen – wir alle möchten gerne liebevoll behandelt werden, oder? Dann sollten wir es auch selbst sein. Ein Modell wie Spiral Dynamics kann aus meiner Sicht dabei helfen.

Leseempfehlungen:

Rainer Krumm:
9 Levels of Value Systems – Ein Entwicklungsmodell für die Persönlichkeitsentfaltung und die Evolution von Organisationen und Kulturen (werdewelt Verlags- und Medienhaus)

Don Edward Beck, Christopher C. Cowan:
Spiral Dynamics – Leadership, Werte und Wandel (Verlag Kamphausen)

Frederic Laloux:
Reinventing Organizations – Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit (Verlag Vahlen)